Die Sonne stand bereits tief am Nachmittagshimmel. In der Hitze des vergehenden Tages zog die Rinderherde mit tief gehaltenen Köpfen und hängenden Ohren durch die staubtrockene Savanne des brasilianisch- guyanisch- venezolanischen Grenzlands dem Waldsaum entgegen. Dort, an der von nun fast völlig ausgetrockneten Sümpfen umgebenen Lagune, lag ihre Tränke. Der starke Herdenbulle bildete die Vorhut, dahinter trotteten in lang gezogenem Band die weiblichen Tiere und die Kälber, nach hinten abgesichert von einigen Jährlingen.
Als der cremegoldene Canchim-Bulle mit seinen annähernd 1300 kg Gewicht und 150 cm Schulterhöhe im Durchstieg in der Uferwand erschien und zum Wasser herabblickte, tauchten die runden, starren Augen, die bislang ruhig die Umgebung beobachtet hatten, langsam zwischen den Wasserhyazinthen ab.
Einige Dufresnesamazonen, die in den umliegenden Bäumen nach Nahrung suchten, bemerkten die leichte Bewegung. Misstönend krächzend flogen sie mit wuchtelndem Flügelschlag auf. Der Alarm der Vögel ließ die alte Leitkuh abrupt in der schmalen Furt stoppen, die die steile Uferwand durchbrach. Unsicher schüttelte sie den Kopf, machte einige zögernde Schritte zum Wasser hin, prallte trotz ihres Durstes aber zurück. Auch die sich langsam hinter ihr aufstauende Herde begann mit aufgestellten Ohren in die Runde zu sichern. Unten, auf dem Schwimmpflanzenteppich der Lagune, stellte ein auf kleine Frösche und Insekten lauernder Cocoireiher derweil seine Nahrungssuche ein. Er richtete sich auf und sträubte alarmiert seine Federhaube. Dies alles kümmerte den kapitalen Bullen nicht.
Er setzte im beruhigenden Kontaktlaut brummend und mit der Zunge seine Nüstern reinigend seinen Weg fort. In diesen Sümpfen war seiner geballten Muskelkraft schon lange kein Gegner mehr gewachsen. Nicht einmal El Tigre, der Jaguar, wagte es, ein Kalb aus seiner Herde zu reißen. Darum schritt er mit selbstbewusster Gleichgültigkeit voran und schenkte der unruhigen Herde hinter sich keine weitere Beachtung.
Am Rand des Wasserloches angekommen, sanken seine schweren Hufe bis zu den Fesseln in den Schlamm. Kurz schaute er aus den in seinem bulligen Schädel winzig wirkenden Augen über das Wasser, prüfte mit gesenktem Kopf schnaufend dessen Genießbarkeit und ging mit immer tiefer in den Schlamm einsinkenden Läufen bis zum Bauch ins kühlende Nass, bis er im Schwimmpflanzengewirr eine freie Stelle zum Trinken fand. Im gleichen Moment, in dem sein Maul das Wasser berührte und er den ersten Zug tat, barst die Wasseroberfläche vor ihm!
Ein riesiger lehmbrauner Kopf schnellte mit aufgerissenem rosa-weißem Maul auf ihn zu und packte ihn hinter den dicken, kurzen Hörnern seitlich an Schulter und Hals. Der Bulle brüllte tief aus vollen Lungen und stemmte sich mit all seiner riesigen Kraft gegen den Angreifer. Er wollte fortspringen, doch der Schlamm gab seine Beine nicht frei. Durch die vehemente Gegenwehr gruben sich die langen, scharfen Zähne des Angreifers stattdessen nur noch tiefer in sein Fleisch, so dass der seinerseits keinerlei Mühe hatte, ihn von den Beinen zu reißen und zu überwältigen.
Der Bulle brüllte gurgelnd. Mit strampelnden Hinterläufen bäumte er sich auf, trat mit den Vorderläufen, doch die unerbittliche Kraft des Gegners zog ihn unweigerlich in die tieferen Bereiche der Lagune hinaus, wo er einige Meter vom Ufer entfernt unter der Oberfläche des aufgewirbelten, schlammig braunen Wassers verschwand. Der verfilzte Teppich der Wasserhyazinthen wirbelte und tanzte, wellte und verwarf sich durch den anschließenden Kampf in der Tiefe unter ihnen. Einen Augenblick lang durchbrach einer der stämmigen Hinterläufe des Bullen das Grün in konvulsivischem Zucken, um mit einer Rollbewegung des Angreifers gleich wieder wegzutauchen. Die Wellen des Kampfes überspülten die Fährte des Bullen am Ufer. Nach wenigen Minuten wurden sie schwächer und schwächer, bis sie schließlich ganz verebbten.
Die verschreckte Herde war auf und davon. Nur eine bereits verwehende Staubfahne zwischen den Bäumen kündete noch von ihrer Flucht, die mit dem sachten, warmen Wind, der von den nahen Llanos hereinstrich, verwehte und sich langsam über die trockenen Gräser und das gelblich-fahle Falllaub der Bäume legte.
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