Die Milchdiebe von England

Manche Tiere haben besondere Fähigkeiten in der Anpassung an ihre Umwelt.  Es ist somit nicht verwunderlich, dass sich Tiere auch im urbanen Umfeld ansiedeln und zurechtfinden, sich sogar mit den Menschen arrangieren.  Und diese geben ihr Wissen von Generation zu Generation weiter. 

Im Jahre 1921 öffnete eine Hausfrau aus Swaythling in England wie jeden Morgen die Haustür, um die Milchflasche zu holen, die täglich vor Sonnenaufgang vom Milchmann geliefert wird. Zum wiederholten Male musste sie dabei verärgert feststellen, dass der Pappdeckel der Flasche und etwas Milch fehlte.  Diese Milchdiebstähle verbreiteten sich in der ganzen Nachbarschaft und sorgten für Gerüchte.

Nachdem diese seltsamen Vorkommnisse immer weiter zunahmen, trat man mit diesem Problem an den Milchmann heran. Dieser versuchte den aufgebrachten Leuten zu erklären, wer für das Verschwinden der Milch verantwortlich sein könnte. Er war der Meinung, dass das gefiederte Volk dafür verantwortlich zu machen sei. Jeden Morgen bei der Milchauslieferung folgten ihm stets mehrere Blaumeisen, normalerweise etwa 9 Vögel, manchmal auch noch mehr.  Aber niemand der Dorfbewohner wollte der Geschichte des Milchmanns Glauben schenken.

Milchdiebe
Gefiederte Milchdiebe

Was keiner der verärgerten Kunden für möglich hielt bestätigte sich jedoch, als einer der Beraubten sich auf die Lauer legte. Und tatsächlich konnte er die Vögel beobachten, wie sie, nachdem der Milchmann verschwunden war, sich mit den Füßen am Rand der Milchflaschen festklammerten und mit dem Schnabel so lange auf den Pappverschluss der Milchflaschen hämmerten, bis diese offen waren.  Anschließend versteckten die Blaumeisen ganz raffiniert den Verschluss in einem Busch in unmittelbarer Nähe und machten sich nach dieser Tat über die Milch in den Flaschen her.

Diese Milchdiebstähle verbreiteten sich nach einiger Zeit in ganz England, innerhalb weniger Jahre sogar in Schottland und Irland. Die stark vermehrten Milchraubzüge sorgten für einen starken Zuwachs der Blaumeisenpopulation zu jener Zeit. 

Englands Milchindustrie wurde durch das sich immer weiter verbreitende Problem endgültig im Jahr 1944 dazu genötigt, von den einfach herzustellenden Pappdeckeln auf Metallverschlüsse umzustellen. Doch auch diese Maßnahme schreckte die Blaumeisen nicht davon ab weiter erfolgreiche Milchdiebstähle zu begehen, da die Meisen lernten auch die härteren Verschlüsse zu durchdringen.  Die Kunden wurden nun darum gebeten Steine, Töpfe oder Handtücher vor der Haustüre zu deponieren, damit der Lieferant die Flaschen damit abdecken konnte.

Doch die Blaumeisen gaben nicht auf. Eine Frau konnte beobachten, wie eine walnusskleine Meise so lange auf einem der Steine herumhüpfte, bis dieser herunterfiel. Eine weitere Zeugin sah mit an, wie am Handtuch mehrere Blaumeisen zogen, um so an die Flaschen mit dem köstlichen weißen Inhalt zu gelangen.

Trotz der Belästigung durch diese Milchräuber wollte keiner den Vögeln etwa antun. Die britischen Haushalte mussten sich damit abfinden, dass sich die schlauen Blaumeisen gelegentlich an ihrer Milch bedienen.

Heute, in Zeiten der Milch aus den Supermärkten, sind die britischen Milchmänner selten geworden, aber es gibt sie noch – und auch die gelehrigen Meisen, die sich an der Milch vergreifen.

Autor: Nadine Schneider
Quelle: Magazin „Der einsame Schütze“, Mai 2002

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